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AutorenbildAnnette Gebauer

Sicherheitskultur in der Prozessindustrie

Fallbeispiel

Sicherheit ist in der Prozessindustrie zentraler Überlebensfaktor. Es geht um den Schutz von Umwelt sowie um den Schutz Leib und Leben. Doch mit rein kontrollorientierten Strategien werden diese stark regulierten Organisationen der Komplexität und Widersprüchlichkeit von Sicherheitsfragen oft nicht gerecht. Einseitige Strategien erzeugen oft ungewollte Risiken, z.B. wenn Regeln und Prozesse aus Zeitgründen nur auf dem Papier „befriedigt“ werden.
Im folgenden Beitrag beschreiben wir den Prozess, den ein Chemieunternehmen gegangen ist, um eine proaktive Sicherheitskultur zu etablieren. Die zentralen Dilemmata in der Sicherheitsarbeit und ihre Bearbeitungsmuster wurden offengelegt und nach Alternativen gesucht.

In einer Abteilung mit 1000 Mitarbeitenden wird eine steigende Anzahl sicherheitskritischen Ereignissen verzeichnet, die vor allem auf verhaltensorientierte Probleme zurückgeführt werden. Wichtige Sicherheitsregeln werden nicht eingehalten, Abkürzungen genommen, Abweichungen normalisiert oder es kommt zu menschlichen Fehlleistungen oder mangelnder Achtsamkeit aufgrund von Stress etc. 

Unser Auftrag lautet, mit dem Führungsteam einen Prozess zur Weiterentwicklung der Sicherheitskultur zu konzipieren und zu begleiten. Ziel ist es, einen grundlegenden und nachhaltigen Musterwechsel in der Sicherheitsarbeit. 


Erste Überlegungen zum Auftrag und Entwicklung eines gemeinsamen Zielbildes


Die Arbeit beginnt im oberen Führungsteam. In diesem Kreis diskutieren wir zunächst, welche widersprüchlichen Anforderungen in dem Anliegen „Sicherheit“ stecken und offen bearbeitet werden müssen. Wir beziehen uns dabei auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum „high reliability organizings“ (HRO) sowie organisationstheoretischen Einsichten:



  • Einerseits braucht es für eine hohe Sicherheit formalen Festlegungen, die verbindlich eingefordert werden müssen. Andererseits muss bei der Gestaltung der Arbeit mitgedacht werden, dass Regeln nicht die komplexe, situative Gemengelage abbilden können. Deshalb braucht es Mechanismen und Praktiken, um in unerwarteten Situationen flexibel reagieren und entscheiden zu können. 

  • Auch wenn Sicherheit die größte Priorität hat, gerät sie  im Alltag iin Konflikt mit der gleichzeitigen Anforderung schnell, produktiv und effizient zu arbeiten.

  • Einerseits erfordert ein hoher Sicherheitsstandard, dass Mitarbeitende bereit sich, Verantwortung zu übernehmen. Anderseits braucht es eine lernbereite Fehlerkultur, die nach Ereignissen nicht sofort die Frage nach den Verantwortlichen stellt. 


Erste Nabelschau und Entwicklung Zielbild


Diese Überlegungen schaffen eine Basis für eine erste Nabelschau: Wie bearbeiten wir diese widersprüchlichen Anforderungen zurzeit? Welche Muster sind typisch für uns? Und welche Bearbeitungsformen möchten wir künftig etablieren?

All dies führt uns zur Beschreibung eines im Führungsteam gemeinsam getragenen Zielbildes und Interventionsverständnis.

Es wird deutlich, dass es für einen Musterwechsel ein starkes Führungsteam braucht, dass in der Bearbeitung der angesprochenen Dilemmata sichtbare Unterschiede setzt. Es braucht einfach zu verstehendes Zielbild und einen Prozess, der neue Erfahrungen in der Zusammenarbeit ermöglicht. 


Entwickeln einer Prozessarchitektur für Flächenwirkung


Auf der Basis dieses gemeinsam etablierten Steuerungsverständnis erarbeiten wir gemeinsam mit dem Führungsteam eine Prozessarchitektur, die vordenkt, wie und wann die relevanten Spieler auf dem Feld zusammengebracht werden müssen. Das sind zum einen die Fachkräfte für Sicherheit und Sicherheitsbeauftragten, die als Community gestärkt und fit für neue Rollenerwartungen gemacht werden müssen. Dann sind es die mittleren Führungskräfte, die das Veränderungsanliegen annehmen und für die Arbeitsebene in konkrete Themen und Maßnahmen übersetzen muss. Zudem müssen notwendige neue Führungskompetenzen aufgebaut werden, um der anspruchsvollen Sicherheitsarbeit gerecht zu werden.


5 Stufenmodell als Qualitätsmaßstab



Um das gemeinsame Zielbild und den Unterschied zu anderen Verhaltensweisen nicht aus dem Blick zu verlieren, kommt das 5-Stufenmodell zum Einsatz. Dieses unterscheidet zwischen verschiedenen Grundmustern, wie in der Organisation mit abweichenden Informationen und Unerwartetem umgegangen wird: Werden Störinformationen eher abgetan und normalisiert oder wird gezielt nach Abweichungen und "schlechten Nachrichten" gesucht, um frühzeitig darauf reagieren zu können, wenn die Handlungsalternativen noch größer sind? Mit anderen Worten geht es um die Irritationsfähigkeit der Organisation. Die Stufen vier und fünf beruhen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Organisationsprinzipien besonders zuverlässiger und resilienter Unternehmen.


Kultur-Dialoge zur kontinuierlichen Selbstprüfung


Um Handlungsfelder zu erkennen, untersuchen Mitarbeiter und Führungskräfte mithilfe von Kultur-Dialogen 21 sicherheitsrelevante Themen, tauschen sich in offener Atmosphäre ohne Schuldzuschreibungen über ihre persönlichen Alltagserfahrungen aus und bewerten die gefundenen Muster anhand des Stufenmodells. Die Kultur-Dialoge basieren auf einem von ICL konzipierten Kartensystem mit konkreten Verhaltensbeschreibungen, die inhaltliche Orientierung bieten und die Diskussion strukturieren. Auf diese Weise entstehen zeitschonend und beteiligungsorientiert Entscheidungen für konkrete Verbesserungsmaßnahmen sowohl am formalen System als auch auf der Verhaltensebene.


Musteranalysen zum Erleben einer konstruktiven Fehlerkultur


Eine weitere Intervention im Prozess bilden Musteranalysen. Hier untersuchen Mitarbeitende, Führungskräfte und Fachexperten ein ausgewähltes unerwartetes Ereignis. Ziel ist es nicht, einen Schuldigen oder die wahren Ursachen ("root cause") zu finden, sondern gemeinsam die kollektiven Bewältigungsmuster im Umgang mit Unsicherheit und Komplexität zu ergründen. Zeitgleich erleben Mitarbeiter und Führungskräfte eine Methode für konstruktives Fehlerlernen, das nicht bei der Willkür des Einzelnen aufhört und das System vom Lernen verschont.




Regelmäßige Arbeit mit den Führungsteams


Die Glaubwürdigkeit und das Verhalten des Führungsteams entscheidet den Erfolg des Vorhabens. Es wird schnell klar, dass dies nicht mit einer Führungsklausur getan ist, sondern dass es regelmäßige wiederkehrende Möglichkeit zu Reflexion braucht. So treffen sich die Führungskräfte in regelmäßigen Abständen, um Fort- und Rückschritte im Prozess zu analysieren und das gemeinsame Verständnis zu schärfen und in Erinnerung zu rufen. Wichtige Fragen werden vertieft: Wie können Führungskräfte als Lenker von Aufmerksamkeit Einfluss auf die Kulturentwicklung nehmen? Welche formalen Veränderungen sind notwendig, dass eine andere Kultur möglich wird? Auch die betrieblichen Führungskräfte (Meister, Schichtführer usw.) werden intensiv eingebunden. In gemeinsamen Workshops definieren sie konkrete Arbeitsthemen und treffen Vereinbarungen zur Umsetzung. Sie selbst können am besten beurteilen, welche Maßnahmen am wirkungsvollsten sind. In selbstorganisierten „Lernpartnerschaften“ werden die Themen eigenverantwortlich umgesetzt und der Bearbeitungsstand gemeinsam verfolgt.


Entwickeln der Sicherheitsfachkräfte als Prozessbegleiter



Sicherheitsfachkräfte werden bewusst als Prozessbegleiter eingesetzt und erhalten das dafür notwendige Rüstzeug. Sie sind nicht Fachexperten mit Kontrollfunktion, sondern etablieren sich Schritt für Schritt als Partner auf Augenhöhe und Change Agent. Darüber hinaus werden Multiplikatoren entwickelt, die sich in regelmäßigen Abständen treffen, um ihre Beobachtungen zur Sicherheitskultur auszutauschen und notwendige Maßnahmen zu bestimmen.


Ergebnisse


Im ersten Jahr zeigen sich erste positive Veränderungen in der Zusammenarbeit: Mitarbeiter sprechen offen über Abweichungen, bringen ihre Meinung ein. Führungskräfte werden als glaubwürdiger in ihrem Verhalten erlebt, vor allem, wenn es um Entscheidungen im Spannungsfeld von Effizienz und Sicherheit geht. Im zweiten Jahr ist die Anzahl von Ereignissen rückläufig. Heute ist der Bereich mehr als zwei Jahre unfallfrei, die Anzahl kleinerer Produktaustritte wurde halbiert. Das Vorgehen wird nun auf den Gesamtstandort mit 30.000 MA übertragen.



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